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Ausgrabungen der Freien Universität im "Schulungslager Wustrau"

Kontakt: Prof. Dr. Susan Pollock (s.pollock@fu-berlin.de) und Prof. Dr. Reinhard Bernbeck (r.bernbeck@fu-berlin.de)

Hintergrund

Das „Schulungslager“ des „Reichsministeriums für die besetzten Ostgebiete“ in Wustrau ist ein weitgehend vergessener Ort nordwestlich von Berlin, wo in den Jahren 1941 bis 1945 kriegsgefangene Sowjetsoldaten aus den muslimischen Gebieten der UdSSR (untere Wolga, Kaukasus) umerzogen und zu Funktionären des NS-Systems ausgebildet werden sollten. Eine große Rolle spielten dabei Akademiker der Berliner Universität, die Lehrende in den Lagern beaufsichtigten, wie etwa der Turkologe Gerhard von Mende. Das Wustrauer Lager war belegt mit Personen, deren höhere Bildung einen erheblichen Nutzen für die Nazis in der späteren Verwaltung der Ostgebiete erwarten ließ. Zu ihnen gehörte auch der posthum berühmt gewordene Dichter Musa Jalil. Die NS-Pläne hatten nicht berücksichtigt, dass solche Personen auch als Widerstands­kämpfer besonders effektiv sein konnten. So arbeitete eine Gruppe um Musa Jalil später für eine tatarische Legionszeitschrift, in der er heimlich Widerstandsnachrichten verbreitete. Die Gruppe wurde 1943 von der Gestapo aufgedeckt. Viele Mitglieder wurden 25. August 1944 in Plötzensee hingerichtet.

Das Lager Wustrau war am Südost-Rand des gleichnamigen Dorfs direkt am Fluss Rhin gelegen. Luftbilder aus dem Zweiten Weltkrieg zeigen den ungefähren Umriss. Heutzutage gibt es keine Hinweise auf dieses Lager auf dem Gelände von Wohnhäusern und einer Gärtnerei. Eine Schulklasse erarbeitete jedoch im Jahr 2018 unter der Leitung von Dr. Theilig eine kleine Ausstellung für das örtliche Museum. 

Konzept des Pilotprojekts

Zu Konfliktforschung gehören neben der Historiographie auch immer mehr die archäologische Forschung und der damit einhergehende Fokus auf materielle Kultur von Konfliktsituationen. Freiheitsberaubung durch Lager, Abtrennung der Lager von der restlichen Bevölkerung und die Aufteilung des Lagerinneren nach rassistischen Prinzipien sind Elemente einer Raumpolitik, die sich nahtlos in die Propaganda des NS-Regimes einfügen. Die Variabilität der Lager und des Lageralltags in solchen Mikrokosmen der Gewalt ist weitgehend unbekannt.

Das FKF-Projekt bestand aus einem Workshop und einer Kurzgrabung.

Wissenschaftliches Team

Das Teamwar so aufgestellt, dass es die in der Wissenschaft gängigen Strukturen epistemischer Gewalt ansatzweise durchbrechen sollte. Anstatt als FU-Expert*innen in Länder „des Südens“ zu reisen und dort deren Vergangenheit zu untersuchen, wurden Kooperationspartner*innen aus dem Iran eingeladen, die hiesige Vergangenheit archäologisch zu erforschen (Prof. Morteza Hessari, Art University Isfahan (Iran);  Dr. Sepideh Saeedi-Chaharbaghi, mittlerweile University of North Carolina at Chapel Hill).

Workshop

Um die Ausgrabung in ihrer epistemologischen Rahmung zu diskutieren, wurde ein Workshop von 1,5 Tagen am 27. und 28. September 2020 direkt vor Grabungsbeginn an der Freie Universität abgehalten, an dem zwei Spezialisten für die tatarisch-deutsche Geschichte vortrugen (Dr. Theilig, Dr. Hotopp-Riecke); weitere Vorträge setzten sich mit Kolonialismus und epistemischer Gewalt auseinander (von Dr. Lerp, Dr. Saeedi, Prof. Pollock), erörterten die Archäologie der Moderne insgesamt sowie das bisher Bekannte aus dem Wustrauer Lager (Dr. Kersting, Dr. Theilig, Prof. Bernbeck).

Ausgrabung

Die Grabung wurde mit der Genehmigung und Aufsicht des Brandenburgischen Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologisches Landesmuseum vom 29. September bis 6. Oktober 2020 durchgeführt. Dabei wurde in fünf unterschiedlichen Ausgrabungsschnitten gearbeitet, von denen vier eine „Baracke F“ an ihren vier Ecken erfassten, und einer das Umfeld einer weiteren Baracke. Die komplexe Nutzung der Baracke F zeigte sich an zahlreichen Resten von Medizin-Behältern, die dort zutage traten und bestätigen, was durch Oral History bzw. Gerüchte im Dorf Wustrau bekannt war: dass dort eine ärztliche Praxis eingerichtet war, die wohl auch die Dorfbewohner*innen mit versorgte. Zweitens fanden sich in einer anderen Baracken-Ecke aber Reste von Schiefertafeln mit eingeritzter Rechen- und Schreib-Linierung, wie man sie früher in Schulen verwendete – ein klares Indiz dafür, dass andere Stuben der Baracke eine schulische Funktion hatten. Aus einem schriftlichen Bericht über das Lager ist bekannt, dass die Bewohner die Baracken selbst bauen mussten. Signifikant ist daher ein im Fundament der Baracke fest eingedrückter metallener Knopf einer sowjetischen Unteroffiziersuniform mit Sowjetstern sowie Hammer und Sichel. Dies kann als Indiz für eine subversive Grundhaltung einiger Bewohner des Lagers genommen werden, zumal, wenn man die späteren Widerstandhandlungen derselben berücksichtigt.

Literatur:

  • Bernbeck, Reinhard. 2017. Materielle Spuren des nationalsozialistischen Terrors. Bielefeld: transcript.
  • Jalil, Musa. 1977. Moabiter Hefte. Berlin: Verlag Volk und Welt.
  • Rubin, Barry und Wolfgang G. Schwanitz. 2014. Nazis, Islamists, and the Making of the Modern Middle East. New Haven: Yale University Press.

Teilnehmende an der Grabung:

Prof. Dr. Susan Pollock, Prof. Dr. Reinhard Bernbeck (beide Freie Universität Berlin)

Prof. Dr. Morteza Hessari (Art University Isfahan, Iran)

Dr. Sepideh Saeedi (University of North Carolina at Chapel Hill)

Maryam Naemi (M.A.), Daniel Schäfer, Lisa Wolff-Heger (M.A.), Studierende an der Freien Universität Berlin

Felix Wolter (M.A.), freiberuflicher Grabungstechniker

Bei Interesse an den Projekten oder einer Zusammenarbeit kann gerne Kontakt zu Prof. Dr. Susan Pollock (s.pollock@fu-berlin.de) und Prof. Dr. Reinhard Bernback (r.bernbeck@fu-berlin.de) aufgenommen werden.